Letzte Woche habe ich mit Jon Jachimowicz, Assistenzprofessor an der Harvard Business School, darüber gesprochen, was eine Leidenschaft ausmacht, wie sich ein leidenschaftliches Interesse entwickelt und warum man im Nachhinein oft ganz anders darüber erzählt. Das Thema heute: Mit welchen Herausforderungen muss man rechnen, wenn man mehr Leidenschaft in das eigene Leben bringen will, und welche Schritte kann man unternehmen, um es dennoch zu erreichen.
Dies ist Teil 2 meines Interviews mit Jon. Teil 1 kann man hier nachlesen.
ANNETTE: Beginnen wir mit einigen Daten. In einem Land wie den USA, wie leidenschaftlich sind die Menschen und wären sie gerne leidenschaftlicher?
JON: In einer Deloitte-Umfrage aus dem Jahr 2019 über Hierarchiestufen und Branchen hinweg, sagten nur 20 Prozent der Arbeitnehmer in den USA, dass die leidenschaftlich bei der Arbeit seien. Und meine eigene Forschung zeigt, dass ein Großteil der Leute, insbesondere in den USA, wo ich vor allem forsche, gerne mehr Leidenschaft bei Arbeit und Freizeitaktivitäten empfinden würde. Dies führt zu einer komplexeren Frage: Ist das Leben der Menschen geeignet, ihre Leidenschaften umzusetzen? Es ist eine Frage nach äußeren Beschränkungen und Freiheiten, zum Beispiel im beruflichen und familiären Umfeld, aber auch eine Frage der Einstellungen, Erwartungen und Prioritäten von Menschen.
ANNETTE: Vor welchen inneren Herausforderungen stehen Menschen, wenn sie versuchen, ein Leben aufzubauen, in dem sie ihre Interessen mit Leidenschaft verfolgen können?
JON: Um Leidenschaft zu entwickeln, muss man zunächst sich selbst und die eigenen Werte verstehen. Das ist nicht einfach. Man muss sich selbst genau unter die Lupe nehmen und dies immer wieder tun. Herauszufinden, was einem wirklich am Herzen liegt, wird auch dadurch erschwert, dass Menschen gerne an Werten festhalten, die sie früher mal geschätzt haben, auch wenn sie jetzt vielleicht nicht mehr relevant sind, weil sie gerne ein Gefühl der Kontinuität haben. Um Leidenschaft zu entwickeln, muss man auch wissen, welche Aktivitäten sich eignen, um die eigenen Werte zu leben. Das ist ebenfalls nicht einfach. Werte sind abstrakt - Menschen helfen oder in eine Gemeinschaft eingebunden sein - und man muss sich ganz konkrete Aktivitäten einfallen lassen, um diese Werte umzusetzen, und diese müssen einem auch noch zugänglich sein. Und eine dritte Herausforderung: Wenn man dann Aktivitäten gefunden hat, kann es schwierig sein, im Alltag die Verbindung zwischen Aktivitäten und Werten zu sehen.
ANNETTE: Können Sie ein Beispiel geben?
JON: Nehmen Sie Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen, die die Erwartung haben, durch ihre Arbeit das Leben von Patienten zu verbessern. Es gibt immer Patienten, denen es nicht besser geht, oder solche, die verärgert oder gar aggressiv sind. Unter diesen Umständen kann es schwierig sein, die Verbindung zwischen Tätigkeit und Wert herzustellen, denn man sieht möglicherweise nicht jeden Tag, dass man einen positiven Einfluss hat. Herausforderungen wie diese gibt es auch im Nicht-Arbeitsbereich. Wenn ich mich für etwas begeistere, bedeutet das nicht unbedingt, dass ich jedes Mal, wenn ich etwas in dieser Richtung tue, das Gefühl habe, ich bin auf dem richtigen Weg.
ANNETTE: Wenn ich mich selbst betrachte, dann habe ich manchmal erhebliche Zweifel an Sachen, die ich eigentlich für meine Leidenschaften halte. Wenn zum Beispiel ein internationaler Flug endlos Verspätung hat, das Airbnb, das ich gebucht habe, schmuddelig ist oder ich in einer fremden Stadt keinen Anschluss zu den Einheimischen finde, frage ich mich, ob ich wirklich so leidenschaftlich daran interessiert bin, andere Kulturen zu entdecken.
JON: Und das ist in Ordnung. Wir müssen zum Verständnis kommen, dass das Streben nach Leidenschaft nicht bedeutet, dass jeder einzelne Tag großartig sein wird, sondern einige Tage hart sein werden. Deshalb liebe ich das deutsche Wort Leidenschaft, was ja wörtlich bedeutet „die Fähigkeit, Härten zu ertragen“. Das Wort sagt viel über Deutsche aus. Aber es sagt uns auch etwas Wichtiges über Leidenschaft: Sie ist oft wirklich herausfordernd. Ein solches Verständnis zu entwickeln, würde es uns erlauben, realistischer und uns selbst gegenüber nachsichtiger zu sein. Wir könnten mehr darüber nachdenken, warum wir heute nicht Feuer und Flamme sind. Vielleicht sind wir erschöpft. Vielleicht beschäftigen wir uns nicht mit Sachen, die uns wichtig sind. Vielleicht passieren in einem anderen Bereich unseres Lebens Dinge, die unsere volle Aufmerksamkeit erfordern.
ANNETTE: Wenn jemand sagt: „Ich würde gerne eine Beschäftigung finden, für die ich mich begeistern kann, aber es fällt mir schwer, etwas entsprechendes zu finden“, was sollte man tun? Wie kann man das angehen?
JON: Ich unterteile das gerne in vier grundlegenden Schritten. Schritt eins ist herauszufinden, was einem wichtig ist. Und eine Sache, die hilfreich sein kann, ist sich gezielt auf Erfahrungen einzulassen, die anders sind, als das was man normalerweise macht. Das kann bedeuten, Begegnungen mit Menschen zu suchen, die von ihrem Hintergrund her ganz anders sind als man selbst und die eigene Peergroup, in ein anderes Land zu ziehen oder ein Praktikum in einem fremden Gebiet zu machen, das einem fremd ist. Ungewöhnliche und fremde Erfahrungen zu sammeln, hilft einem, neue Dinge über sich und die eigenen Werte zu entdecken. Sobald man ein gutes Gefühl dafür hat, wer man sind, kann man den zweiten Schritt angehen und diese Geschichte über sich selbst hinterfragen. Eine hervorragende Möglichkeit ist beispielsweise sich alternative Geschichten auszudenken, indem man sich fragt: „Wie würde die Welt aussehen, wenn ich einen anderen Hut aufsetzen würde?“ und diese Geschichten dann eine Weile ausprobieren. Wir nennen das narrative Flexibilität.
ANNETTE: Wie genau könnte das aussehen?
JON: Nehmen Sie mich als Beispiel. Ich könnte mich fragen: „Wenn ich jetzt nicht Professor, sondern Unternehmer wäre, welche Geschichte würde ich über die Welt erzählen? Und was würde das über mich aussagen?“ Vielleicht würde ich herausfinden, dass ich gerne verrückte Ideen entwickle und bei anderen für diese um Unterstützung werbe. Das ist nicht unbedingt etwas, was Akademiker tun, wohl aber Unternehmer. Oder was wäre, wenn ich mir vorstelle, ein Pilot zu sein? Ein Zoowärter? Ein Künstler? Wie würde mein Leben aussehen? Es gibt viele alternative Geschichten, die man über sich selbst erzählen kann, und sie werden unterschiedliche Teile der eigenen Person enthüllen. Das ist ein lebenslanger Prozess, und man ist nie damit fertig. In dem Moment, wo man glaubt, man sei ein fertiges Produkt, hört man auf, sich selbst gegenüber aufmerksam zu sein.
ANNETTE: Wenn man eine gute Vorstellung darüber hat, wer man ist und wer man sonst sein könnte, was sollte man dann tun?
JON: Schritt drei besteht darin, sich zu fragen, wie ein Leben konkret aussehen könnte, durch das man diese wesentlichen Teile des eigenen Selbst ausdrücken kann. Und hier ist es wichtig zu verstehen, dass keine einzelne Aktivität alle Werte, die man hat, erfüllen wird. Ein Weg, den man einschlagen kann, ist ein Portfolio-Ansatz. Ähnlich wie bei der Geldanlage, wo man sein Kapital auf viele Investitionen verteilt, um das Risiko zu verringern, sollte man auch seine Zeit auf verschiedene Aktivitäten verteilen. Dadurch kann man viele, vielleicht sogar alle seine Werte ausleben. Und man kann an Selbstwertgefühl gewinnen, selbst wenn eine der Beschäftigungen nicht so gut läuft. Und schließlich besteht der vierte Schritt darin, die Aktivitäten, die man sich ausgedacht hat, auch tatsächlich auszuüben und sich immer wieder vor Augen führen, dass sie mit den Werten, die einem wichtig, in Verbindung stehen.
Annette: Sie sind leidenschaftlicher Salsa-Tänzer. Woher rührt dieses Interesse und wie hat es sich entwickelt?
JON: Warum Salsa meine Passion ist, darüber habe ich viel nachgedacht. Es begann, als ich für mein Promotionsstudium nach New York zog und viele meiner Freunde und Familienmitglieder zurückließ. In dieser Phase meines Lebens hat Salsa für mich verschiedene Ziele erfüllt. Einer meiner Werte ist Gemeinschaft; es ist mir wichtig, Teil eine Community zu sein. Und in New York ist die Salsa-Community ziemlich engagiert. Wenn man zu Salsa-Events geht, triffst man immer wieder die gleiche Gruppe von Leuten. Das Zweite, was mir wichtig ist, ist mit Menschen in Kontakt zu treten. Und bei Salsa dreht sich alles darum, eine Verbindung ohne Worte herzustellen. Ein guter Salsa-Tänzer schafft es, eine gute Beziehung zum Tanzpartner oder der Tanzpartnerin aufzubauen. Und ein drittes wichtiges Ziel für mich besteht darin, nicht die ganze Zeit in meinem Kopf zu sein. Beim Salsa Tanzen bekommt man in dieser Hinsicht sofort Feedback. Wenn man es schafft, nicht so kopfgesteuert zu sein und mal loszulassen, dann funktioniert das Tanzen gut und die Partnerin ist happy. Aber wenn man an was anderes denkt und nicht aufmerksam ist, was auf der Tanzfläche passiert, macht das Tanzen weniger Spaß und man kann sogar die Partnerin verletzen. Es gab also gute Gründe, warum ich mich so Von Salsa angezogen fühlte.
ANNETTE: Und das ist nicht mehr der Fall?
JON: Im Moment ein bisschen weniger. Wegen Covid habe ich in den letzten paar Jahren nicht viel getanzt. Und wenn man einer Aktivität nicht nachgeht, lässt die Begeisterung dafür nach. Das ist ein Grund. Zum Teil liegt es auch daran, dass ich einige meiner Bedürfnisse jetzt auf andere Weise erfüllen kann. Ich lebe seit ein paar Jahren hier in Boston und habe eine Community aufgebaut, die sich um Salsa, sondern um andere Dinge dreht. Ebenso habe andere Wege gefunden, mit Menschen in Verbindung zu treten. Meine Werte haben sich also nicht geändert, wohl aber wie ich sie auslebe. Bei Menschen, die nach einem leidenschaftlichen Leben streben, ist das auch keine Seltenheit.
ANNETTE: Danke, Jon!
Soviel zur Leidenschaft - fürs Erste. Wir werden das Thema sicher später wieder aufgreifen.
Und noch eine Info in eigener Sache: Da ich nächste Woche meinen jährlichen Besuch in Deutschland abschließen und nach San Francisco zurückreisen werde, macht der Newsletter eine Pause. Also kein Post nächste Woche. Am 19. August melde ich mich mit frischem Input zurück. Nicht verpassen!
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