Letzte Woche habe ich darüber geschrieben, wie Menschen Leidenschaft für ein Thema oder eine Aktivität entwickeln und habe zwei Blickwinkel vorgestellt: Leidenschaft, die wie ein Blitz einschlägt und Leidenschaft, die sich entwickelt und wächst. Um tiefer in dieses faszinierende Thema einzutauchen, habe ich Jon Jachimowicz von der Harvard Business School eingeladen, der die dynamische Natur von Leidenschaft und sinnvoller Arbeit erforscht.
Mit nur 32 Jahren kann Jon schon auf einen ziemlich beeindruckenden Lebensweg zurückblicken. Geboren und aufgewachsen ist er in Köln und hat sich nach dem Abitur für einen Wechsel ins Ausland entschieden. Er ging nach Großbritannien, wo er einen M.A. von der University of St. Andrews (Schottland) und einen M.Phil. von der University of Cambridge (England) erwarb. Dann zog er über den Atlantik und promovierte an der Columbia Business School in New York. Heute ist er Assistant Professor of Business Administration an der Harvard Business School in Cambridge, Massachusetts, wo er einen Kurs zu Leadership and Organizational Behavior unterrichtet und ein eigenes Labor betreibt. Er stand 2020 auf der Forbes-Liste der „30 unter 30“ und wurde 2021 vom Magazin Poets & Quants als einer der besten „40 unter 40“-Professoren gekürt.
Jon ist nicht nur ein leidenschaftlicher Forscher und Lehrer – wie man sofort merkt, wenn man sich mit ihm unterhält – sondern auch ein leidenschaftlicher Salsa-Tänzer.
Es folgt Teil 1 des Interviews; den zweiten Teil kannst Du nächste Woche lesen.
ANNETTE: Zunächst möchte ich gerne abstecken, über was wir genau reden. Wahrscheinlich wissen die meisten Menschen, wie es sich anfühlt, eine Aktivität oder ein Thema leidenschaftlich zu verfolgen. Aber wie definieren Sie als Wissenschaftler Leidenschaft?
JON: Meine Definition von Leidenschaft läuft auf drei Punkte hinaus. Erstens ist Leidenschaft eine intensive emotionale Erfahrung, die positiv, aber auch negativ sein kann. Sie zieht uns oft in viele unterschiedliche Richtungen gleichzeitig. Die Qual und Mühsal, die Leidenschaft mit sich bringen kann, und die Ambivalenz, die wir deshalb empfinden können, sind ein wichtiger Teil von ihr. Zweitens ist Leidenschaft auf etwas gerichtet, das uns am Herzen liegt. Man sagt oft, dass man sich für eine bestimmte Aktivität begeistert; aber für mich geht es auch darum, wofür die Aktivität steht. Inwiefern erfüllt sie für uns einen höheren Wert? Und drittens geht Leidenschaft mit Motivation einher. Wenn man sich für etwas begeistert, das einem wichtig ist, dann ist man auch motiviert, entsprechende Aktivitäten zu verfolgen. Wenn man beispielsweise eine Leidenschaft für Basketball hat, dann fühlt man sich getrieben, sich Basketballspiele anzusehen, selbst zu spielen oder alles über Basketball zu lesen. Wenn das nicht so ist, dann ist es womöglich nicht wirklich eine Leidenschaft.
ANNETTE: Wie entsteht Leidenschaft, das ist heute unser Thema. Aber Sie haben auch erforscht, welche Vorstellungen Menschen darüber haben, wie Leidenschaft entsteht. Was haben Sie herausgefunden?
JON: Viele Menschen betrachten eine Leidenschaft als etwas, das einem leicht fällt, anregend ist und Spaß macht. Es ist eine verbreitete Erwartung, weil uns Leidenschaft oft so präsentiert wird. Nehmen wir zum Beispiel Ansprachen bei Abschlussfeiern, zu denen erfolgreiche Menschen eingeladen werden, damit Schüler und Studenten etwas von ihnen lernen können. Ich schätze die Reden als kulturelle Artefakte. Aber diese arrivierten Menschen sagen uns oft, dass Leidenschaft Spaß mache und aufregend sei und dass dies auch ein guter Indikator dafür sei, auf dem richtigen Weg zu sein. Also nehmen wir als Rat mit nach Hause, dass wir Spaß bringenden und aufregenden Dingen nachgehen sollten. Aber so funktioniert das Streben nach Leidenschaft nicht.
ANNETTE: Wie funktioniert es denn?
JON: Um eine Leidenschaft zu finden und zu entwickeln, muss man eher herausfinden, wer man ist und was einem wichtig ist. Es geht darum, das Bewusstsein für die eigene Person und die eigene Identität zu stärken. Es geht darum, die Werte zu verstehen, die einem am Herzen liegen, und welche Prioritäten man dabei hat. Es gibt viele Dinge, die mir im Leben wichtig sind, aber was ist für mich zentral und was eher peripher? Zweitens erfordert die Entwicklung von Leidenschaft ein tiefgehendes Verständnis dafür, wie man diese Werte ausleben kann. Welche konkreten Aktivitäten sind mir regelmäßig zugänglich, um meine Werte umzusetzen? Beides – sich selbst verstehen und sinnstiftende Aktivitäten identifizieren – kann ziemlich schwierig sein.
ANNETTE: Sie sprechen auch von der dynamischen Natur der Leidenschaft. Was meinen Sie damit?
JON: Es gibt diesen weitverbreiteten Glauben in der Gesellschaft, dass man entweder eine Leidenschaft hat oder nicht. Meiner Meinung nach ist diese Vorstellung ziemlich schädlich, weil sie impliziert, dass man als Mensch mit Leidenschaft jeden Tag leidenschaftlich ist. Aber so funktioniert das Leben nicht. Ein Problem besteht darin, dass die Aufgaben, die man Tag für Tag erledigt, variieren und man mehr oder weniger begeistert dabei ist. Eine engagierte Basketballspielerin muss vielleicht Krafttraining machen, was sie nicht mag, sodass sie sich womöglich an Tagen im Kraftraum nicht sehr leidenschaftlich fühlt. Zudem fordert uns das tägliche Leben unterschiedlich stark heraus. Wenn wegen Covid heute keine Kinderbetreuung stattfindet und ich mein Kind während der Arbeit im Auge behalten muss, kann ich nicht erwarten, die gleichen emotionalen Ressourcen für meinen Job aufzubringen wie sonst. Meine Forschung zeigt, dass die Leidenschaft aus diesen Gründen ziemlich schwankt.
ANNETTE: Wie erforschen Sie das?
JON: Mit Hilfe einer Methode die Experience Sampling heißt, fragen wir über Tage und Wochen mehrmals täglich Daten von denselben Personen ab. Auf diese Weise bekommt man ein gutes Verständnis dafür, wie das Leben dieser Menschen aussieht. Und was man sieht ist, dass bei einer Person die Leidenschaft von Tag zu Tag beträchtlichen Schwankungen unterworfen ist, und sogar innerhalb eines Tages. Es gibt auch Variationen zwischen Menschen; manche Leute erleben Leidenschaft häufiger oder intensiver als andere. Die interessante Frage ist dann, was einen Tag so viel leidenschaftlicher macht als einen anderen. Und dies führt zu weiteren Fragen: Was kann ich als Einzelner tun, um meine Tage leidenschaftlicher zu gestalten? Aber auch, ist es realistisch, dass jeder Tag ein Tag voller Leidenschaft ist? Wäre das überhaupt durchhaltbar?
ANNETTE: In der psychologischen Literatur gibt es den Ansatz der kristallisierenden Erfahrung. Danach können manche Menschen, besonders die sehr talentierten, auf einen entscheidenden Moment in ihrer Entwicklung verweisen, als sie jemanden trafen oder ein prägendes Erlebnis hatten, und dies brachte sie auf den Weg zur Leidenschaft ihres Lebens. Wie verhält sich die Idee einer Art Offenbarungsmoment zur Vorstellung, dass sich Leidenschaft im Laufe der Zeit entwickelt und schwankt? Diese Ansätze scheinen sich fast zu widersprechen.
JON: Das sehe ich nicht unbedingt so. Ich verstehe die Literatur über kristallisierende Erfahrungen so, dass es Momente im Leben von Menschen gibt, die ihnen helfen zu erkennen, wer sie sind und was ihnen wichtig ist. Das können sehr positive Erfahrungen sein, wie der Gewinn eines Wettbewerbs oder die Erkenntnis, dass man das Leben von jemand anderem verbessert. Und es können tragische Umstände wie der Tod eines geliebten Menschen sein. Diese Momente enthüllen einen wichtigen Teil dieser Person, der widerspiegelt, wer sie ist, und erlaubt dem Menschen, eine bessere Geschichte über sich selbst zu erzählen. Und das ist eine wichtige Ressource im Streben nach Leidenschaft. Es ermöglicht einem, darüber nachzudenken, wie man diesen Teil von sich selbst umsetzen kann, indem man eine Karriere oder andere Aktivitäten findet, durch die man die eigenen Werte ausleben kann. Ich denke also nicht, dass diese beiden Ideen notwendigerweise widersprüchlich sind. Aber ich glaube, dass es so erscheinen kann, als passten sie nicht zusammen oder seien sogar widersprüchlich, weil ihre Zeitperspektive unterschiedlich ist.
ANNETTE: Wie das?
JON: Wenn wir diese bedeutenden Momente erleben, ist es für uns oft ziemlich schwierig, gleich die Bedeutung zu verstehen, die wir daraus ableiten können. Die volle Bedeutung dieser Momente ist nicht unbedingt offensichtlich, wenn sie passieren, sondern die Erkenntnis kommt erst im Nachhinein. Søren Kierkegaard sagte sinngemäß: Das Leben kann nur rückwärts verstanden werden, aber es muss vorwärts gelebt werden. Wenn wir zurückblicken, macht alles Sinn, aber im Moment kann es sich sehr ungewiss anfühlen. Ein damit zusammenhängendes Problem besteht darin, dass wir im Nachhinein gerne Ordnung in das Chaos bringen und eine Geschichte erzählen, die glatter klingt, als sie tatsächlich war. Also erzählen wir eine Story, als sei es ein schöner gerader Weg gewesen, während es in Wirklichkeit Höhen und Tiefen gab. Unsere Erfahrungen im Moment sind also oft viel turbulenter als die Geschichte, die wir später über sie erzählen. Und schließlich können sich die Geschichten, die wir erzählen ändern und damit auch die Bedeutung, die wir Erfahrungen beimessen.
ANNETTE: Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
JON: Ich gebe Ihnen ein persönliches Beispiel. Als ich mit dem Graduiertenstudium begann, konzentrierte ich mich sehr auf die Forschung. Wenn ich also über mein Leben erzählte, berichtete ich von Momenten, in denen mir klar geworden war, wie gerne ich mich in Fachliteratur vertiefe, nachdenke und schreibe. Und dann, fünf Jahre später, als ich eine Position als Professor übernahm, waren meine Forschungserfahrungen zwar immer noch bedeutsam, und ich erzählte auch weiterhin Geschichten darüber. Aber jetzt erzählte ich auch Geschichten über meine Erfahrungen als Lehrer, weil das Unterrichten jetzt ein wichtiger Teil meines Lebens war. Und stellen Sie sich vor, ich fand in meiner Vergangenheit fantastische Erfahrungen als Lehrer. Sie wurden nun Teil meiner Erzählung darüber, warum Professor zu sein, genau das richtige für mich ist.
ANNETTE: Ihre Erfahrungen haben sich nicht geändert, wohl aber die Geschichte, die Sie über sich und ihr Leben erzählen.
Jon: Genau. Und in Zukunft wird sich meine Geschichte erneut ändern und das immer wieder. Die Quintessenz ist also: Wir können unsere Erfahrungen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und unsere Erzählung entsprechend umschreiben. Wenn man ein Leben lang Aktivitäten leidenschaftlich verfolgen will, ist es auch sehr wichtig, das zu tun. Allerdings ist gar nicht so einfach umzusetzen.
ANNETTE: Danke, Jon. Wir werden nächste Woche über die Herausforderungen sprechen, die man erleben kann, wenn man mehr Leidenschaft in sein Leben bringen will, und Schritte erläutern, wie man es dennoch erreichen kann. Bis dahin!
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