🇩🇪 So tun als ob - auf gesunde Weise
Wie man sich "gegen die eigene Natur" verhalten kann, ohne in Stress zu geraten
Letzte Woche ging es um den verbreiteten Glauben, man müsse immer “ganz man selbst” sein. Ich habe Brian Little, einen emeritierten Professor von der Carleton University in Ottawa, und seine Free Trait Theory vorgestellt. Der kanadische Psychologe argumentiert, dass man sich durchaus manchmal “gegen die eigene Natur” verhalten sollte, wenn man so Projekte vorantreiben kann, die einem am Herzen liegen.
Die Strategie So-tun-als-ob hat jedoch ihre Grenzen. Unerschrocken zu handeln, wenn man eigentlich eine ängstliche Seele ist oder einer einsamen Beschäftigung nachzugehen, obwohl man eine gesellige Natur hat, ist anstrengend, wie Little betont. Über längere Zeit Verhalten aufrechtzuerhalten, das der eigenen Disposition entgegenläuft, erzeugt Spannung und Stress, die dem Wohlbefinden höchst abträglich sein können. Je weiter man sich von der eigenen biogenetischen Natur entfernt, desto größer die Belastung.
Er selbst ist das beste Beispiel dafür, wie schwerwiegend die Auswirkungen sein können. Obwohl er ein extrem introvertierter Zeitgenosse ist, hält er Vorlesungen in einem Stil, der Extrovertierte neidisch machen würde. Er tut dies, um seinen Studenten das Zuhören und Mitdenken leichter zu machen. Er ist es gewohnt, so zu unterrichten- und dennoch fühlt er sich danach erschöpft und ruhebedürftig. In einem Semester strengte er sich so an, dass er an einer doppelten Lungenentzündung erkrankte.
Was geht im Körper vor, wenn man vorgibt, etwas zu sein, was man nicht ist? In seinem Buch Me, Myself, and Us stellt Little dazu faszinierende Forschung vor. Die zentrale Idee: Wenn man biogenetische Eigenschaften unterdrückt - Introversion in Littles Fall – wird das autonome Nervensystem gereizt. Und wenn eine solche Erregung chronisch wird, kann dies auf Kosten der Gesundheit gehen.
Little bezieht sich hier auf Arbeiten seines Kollegen Jamie Pennebaker von der University of Texas und Kollegen. Diese deuten darauf hin, dass bei Menschen, die wichtige Aspekte ihres Lebens unterdrücken, z. B. zutiefst unangenehme Kindheitserfahrungen, das autonome Nervensystem chronisch erregt ist. Sie haben deshalb mit größeren gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, als Leute, die weniger zum Unterdrücken neigen.
Auf ähnliche Weise wird der Körper belastet, wenn man über einen längeren Zeitraum Eigenschaften zur Schau stellt, die einem eigentlich fremd sind, argumentiert Little. Eine von Natur aus freundliche und verträgliche Anwältin beispielsweise, die versucht aggressiver aufzutreten, mag bemerken, dass ihr Herz schneller schlägt, dass sie mehr schwitzt, nervöser ist und unter Muskelverspannungen leidet, alles Anzeichen, dass ihr autonomes Nervensystem erregt ist.
Was kann man tun? Um die negativen Folgen des strategischen So-tun-als-ob abzumildern, stellt Little drei Optionen vor:
Erholungsnischen schaffen: Das sind Orte oder Situationen, in denen man keine Rolle spielen muss, sondern einfach man selbst sein kann. Eine solche Nische kann je nach Persönlichkeit ganz unterschiedlich aussehen. Der introvertierte Little beispielsweise zieht sich nach einer Vorlesung bewusst zurück und konzentriert sich eine Weile ganz auf sich. Notfalls schließt er sich dazu sogar auf der Herentoilette ein. Ein geselliger Student dagegen, der eine ganze Woche in seiner Bude verbracht hat, um zu lernen, geht vielleicht zur Erholung in die größte und lauteste Disco der Stadt.
Erholsame Aktivitäten und Projekte betreiben: Ähnlich wie Erholungsnischen sorgen Aktivitäten und Projekte, bei denen man sich “seiner Natur entsprechend” verhalten kann, für Erholung und Entspannung. Ein überlasteter Introvertierte mag sich beispielsweise für einen Meditationskurs anmelden. Eine kreative Person, die gezwungen ist, einer repetitiven Arbeit in einem Warenlager nachzugehen, fängt vielleicht zu Hause ein Kunstprojekt an.
Einen “free trait”-Vertrag abschließen: In einem solchen Abkommen, das man mit Lebenspartnern, Freunden oder Kollegen aushandeln kann, wird festgelegt, dass man sich manchmal gegen die eigene Natur verhält, aber zu anderen Zeiten ganz man selbst sein darf. Das kann bedeuten, dass eine Frau, die es liebt immer wieder Neues zu erleben, sich bereit erklärt, jeden Sommer mit ihrem nostalgischen Ehemann an demselben Ort campen zu gehen. Im Gegenzug willigt er ein, zu Weihnachten mit ihr abenteuerliche Reisen an exotische Orte zu machen.
Am besten kann man eine solche Vereinbarung mit sich selbst abschließen, findet übrigens Autorin Susan Cain in ihrem Buch Still und gibt ein anschauliches Beispiel. Vielleicht träumt man davon, eine eigene kleine Firma zu gründen, hasst es aber, das dafür notwendige Networking zu betreiben. Dann kann man mit sich vereinbaren, einmal im Monat zu einer Firmengründerveranstaltung zu gehen, mindestens ein tiefergehendes Gespräch zu führen und am nächsten Tag bei dem Gesprächspartner nachzuhaken. Das muss man aber nur alle vier Wochen machen und darf dazwischen ohne Schuldgefühle zu Hause bleiben.
Den meisten Menschen dürfte es nicht schwer fallen, mögliche Anwendungsbereiche in ihrem Leben zu finden. Es könnte sich lohnen, der Fantasie freien Lauf zu lassen. Denn wer sich auch mal anders verhält, als es der eigenen Natur entspricht, schreibt Brian Little, eröffnet sich die Möglichkeit, persönliche Projekte voranzutreiben, die dem Leben einen Sinn geben, aber ohne den Einsatz von freien Eigenschaften verschlossen bleiben.
Lohnendes zum Weiterstöbern
TED Talk: Brian Little – Who are you really?
In diesem Vortrag auf der TED-Bühne, den mehr als 16 Millionen Menschen gesehen haben, erklärt Little, was traditionelle und freie Persönlichkeitsmerkmale sind.https://www.ted.com/talks/brian_little_who_are_you_really_the_puzzle_of_personality
Buch: Ben Fletcher/ Karen Pine: Flex - Do Something Different
In diesem Buch erklären zwei britische Psychologieprofessoren FLEX, ein Programm zur Verhaltensänderung, mit dem man Eigenschaften trainieren kann, die einem von Natur aus eher fremd sind.Artikel: Olga Khazan - I gave myself three months to change my personality
In diesem Feature aus dem Magazin The Atlantic berichtet die Redakteurin Olga Khazan über ihr Experiment, extrovertierter, freundlicher und weniger neurotisch zu werden.
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