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Im Film Julie & Julia speist die 30-jährige Julia Child (Meryl Streep) mit ihrem Diplomaten-Ehemann Paul in einem noblen Pariser Restaurant. Die resolute Amerikanerin verputzt eine Seezunge in Zitronen-Butter-Sauce - und ist entzückt. So etwas Gutes hat sie noch nie gegessen. "Dieses Erlebnis hat meine Seele und meinen Geist geöffnet", schrieb Child später. "Ich war Feuer und Flamme, und es hielt mein Leben lang an, wie sich herausstellte.” Dieses Dinner war der entscheidende Moment, so scheint es, der sie auf den Weg setzte, eine legendäre Köchin zu werden, die mit ihrem französischen Kochbuch und ihrer Fernsehshow so außerordentlich erfolgreich war.
Wie begeistern sich Menschen für ein Thema oder eine Tätigkeit? Das ist eine Frage, über die ich viel nachgedacht und gelesen habe. Es scheint zwei unterschiedliche Blickwinkel zu geben:
Erstens: Es gibt einen entscheidenden Moment, einen Funken der Einsicht, durch den jemand plötzlich erkennt: "Das ist es, womit ich mich beschäftigen sollte.”
Zweitens: Interessen entwickeln sich langsam - wie ein sprießender Samen, der gepflegt werden muss, um zu einer lebensfähigen Pflanze heranzuwachsen.
Schauen wir uns an, was Psychologen zu den beiden unterschiedlichen Ansätzen sagen. Dean Keith Simonton, emeritierter Professor an der University of California, Davis, der das Leben herausragender Menschen erforscht hat, hebt die Bedeutung sogenannter kristallisierender Erfahrungen hervor. Er verweist auf ein Konzept, das von Joseph Walters und Howard Gardner (Harvard University) bereits 1984 entwickelt wurde. "Menschen, die ihre Leidenschaft noch nicht gefunden haben, so die Grundidee, werden so lange herumsuchen, bis sie ein besonderes Erlebnis haben, das ihnen zeigt, wo ihre eigentlichen Interessen und Talente liegen", erklärte mir Simonton in einem Interview. "Diese Erleuchtung katapultiert sie in eine neue und dauerhafte Entwicklungsrichtung."
Insbesondere kreative Menschen können oft ein solch prägendes Erlebnis beschreiben, das ihnen den Weg in eine für sie vielversprechende Richtung wies. In seinem Buch The Genius Checklist nennt Simonton zwei Beispiele aus der Musik: Herbie Hancock, der mit klassischem Klavier begann und erst später seine wahre Liebe, den Jazz, fand. Und Anton Bruckner, der sich erst als Kirchenkomponist betätigte, bevor er im Alter von fast 40 Jahren die Wunder der im großen Wagner-Stil komponierten symphonischen Musik entdeckte.
Aber auch in anderen Bereichen scheinen kristallisierende Erfahrungen wichtig zu sein. Die polnische Forscherin Maja Wenderlin untersuchte in ihrer Doktorarbeit das Leben und den wissenschaftlichen Werdegang von 38 begabten Mathematikern, von herausragenden Doktoranden über Gewinner der Internationalen Mathematik-Olympiade bis hin zu angesehenen Professoren.
Einige von ihnen wussten schon in jungen Jahren intuitiv, womit sie sich ihr Leben lang beschäftigen wollten, was sie erfüllen und glücklich machen würde, schreibt sie. Bei vielen anderen waren es jedoch Kontakte mit Menschen, Dingen oder Ereignissen, die sie in die Mathematik lenkten. Bei diesen "Meilensteinen", wie Wenderlin sie nennt, handelte es sich beispielsweise um Wettbewerbe, durch die jemand die eigene besondere Leistung erkannte und sich dadurch einzigartig und selbstmächtig fühlte. Oder sie begegneten einer Autorität des Gebiets, die ihre einzigartigen Eigenschaften zur Kenntnis nahm. Es wurde den Mathematikern allerdings erst aus späterer Sicht klar, dass es sich hierbei um Meilensteine gehandelt hatte.
In der Tat betonen Walters und Gardner, dass Menschen in dem Moment, in dem das kristallisierende Erlebnis auftritt, nicht erkennen können, dass es ihr gesamtes Leben bestimmen wird. Einen kristallisierenden Moment zu identifizieren gelingt erst im Nachhinein durch Introspektion.
Julia Childs augenöffnendes Abendessen mit Seezunge scheint auch ein solches Schlüsselerlebnis gewesen zu sein. Aber ist das wirklich so? Die Psychologin Angela Duckworth von der University of Pennsylvania hat da ihre Zweifel.
Duckworth hat Tausende von Menschen untersucht, die in ihren Aktivitäten außergewöhnliches Durchhaltevermögen (englisch “Grit”) gezeigt haben, von Marinesoldaten bis hin zu Olympioniken. Sie betont heute, dass Leidenschaft nicht über Nacht kommt. Das war allerdings nicht von Anfang an so. In ihrem Buch Grit. The Power of Passion and Perseverance verrät sie, dass sie, als sie mit ihrer Forschung begann, funkensprühende Erleuchterungen erwartet hatte, filmische Momente wie die Begegnung Childs mit der göttlichen Seezunge. "Aber die meisten Menschen mit überdurchschnittlichem Stehvermögen, die ich interviewt habe, erzählten mir, dass sie jahrelang verschiedene Interessen ausprobiert haben, und es nicht auf den ersten Blick erkennbar war, dass die Sache, mit der sie sich schließlich Tag und Nacht beschäftigten, ihre Lebensbestimmung werden würde."
Sie erwähnt den olympischen Goldmedaillengewinner Rowdy Gaines, der in der High School zunächst Football, Baseball, Basketball, Golf und Tennis spielte, bevor er es mit dem Schwimmen versuchte. Beim Schwimmen blieb es, aber es war nicht gerade Liebe auf den ersten Blick, wie Duckworth erzählt. Noch am Tag, an dem Gaines sich für das Schwimmteam bewarb, ging er in die Schulbibliothek, um über Leichtathletik nachzulesen, denn er rechnete damit, dass ihn die Schwimmer nicht aufnehmen würden und dann wollte er es bei den Leichtathleten versuchen.
Und der preisgekrönte Küchenchef Marc Vetri interessierte sich als Teenager genauso für Musik wie fürs Kochen, schreibt Duckworth. Später ging er zur Musikhochschule und arbeitete nachts in Restaurants. Er wandte sich schließlich dem Kochen zu, weil er in der Gastronomie Geld verdiente, während die Aktivitäten seiner Band nicht lukrativ waren. Er sei froh, dass er sich für eine Karriere in der Küche entschieden habe, sagte er Duckworth, war aber sicher, dass er unter anderen Umständen genausogut hätte Musiker werden können.
„Wir mögen Menschen beneiden, die die Sache, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienen, lieben. Aber wir sollten nicht annehmen, dass ihre ersten Schritte anders als die unseren waren“, schließt Duckworth. „Wahrscheinlich haben sie ziemlich lange gebraucht, um genau herauszufinden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollten.“
Das sind mehr als nur Anekdoten. Die Forschung über die dynamische Natur der Leidenschaft zeigt, dass sich bei viele Menschen ein Interesse im Laufe der Zeit entwickelt. Eine Leidenschaft kann schwanken und muss gepflegt werden, um sich zu etablieren und ein wesentliches Element des eigenen Lebens zu werden.
„Was Julia Child anbelangt, so war der erste himmlische Bissen Sole Meunière in der Tat eine Offenbarung“, schreibt Duckworth. „Aber ihre Offenbarung war, dass die klassische französische Küche göttlich war, nicht, dass sie Köchin und Kochbuchautorin werden und Amerika beibringen würde, wie man in der eigenen Küche Coq au Vin zubereitet.“ Tatsächlich zeigt Childs Autobiografie, dass auf dieses denkwürdige Mahl viele Erlebnissen folgten, die ihr Interesse anfachten: zahlreiche weitere Besuche in Pariser Restaurants; Gespräche mit Obst-, Fleisch- und Fischverkäufern auf den Märkten der Stadt; endloser Kochunterricht in der Kochschule Le Cordon Bleu unter der Leitung des anspruchsvollen Küchenchefs Bugnard; die Freundschaft mit zwei Französinnen, die sie einluden, gemeinsam ein französisches Kochbuch für Amerikaner zu schreiben.
In Childs Romanze mit französischem Essen war der erste Seezungenbissen also eindeutig nur der erste Kuss, schreibt Duckworth. Child würde nicht widersprechen. „Je mehr ich koche, desto mehr mag ich es“, sagte Child später zu ihrer Schwägerin. „Wenn ich bedenke, dass ich vierzig Jahre gebraucht habe, um meine wahre Leidenschaft zu finden (Katze und Ehemann ausgenommen).“ Mon Dieu!
Das ist es also: Leidenschaft als etwas, das wie der Blitz einschlägt und Leidenschaft als etwas, das sich entwickelt und wächst. Aber widersprechen sich diese beiden Blickwinkel nicht, werdet Ihr Euch vielleicht fragen. Oder gibt es eine Möglichkeit, sie zusammenzubringen? Und was bedeutet das alles für uns gewöhnliche Menschen, die keine begabten Mathematikerinnen, Kultköche oder berühmten Musikerinnen sind, aber dennoch ein von Interesse und Leidenschaft geprägtes Leben führen möchten?
Dies sind hervorragende Fragen, die es wert sind, verfolgt zu werden. Deshalb habe ich Jon Jachimowitz von der Harvard Business School, der die dynamische Natur der Leidenschaft erforscht, eingeladen, uns das alles zu erklären. Ich bin sicher, es wird ein spannendes Interview. Nachzulesen im Newsletter der nächsten Woche. Nicht verpassen!
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