🇩🇪 Die Kunst, so zu tun als ob
Warum man manchmal Projekte verfolgen sollte, die nicht in der eigenen Natur liegen
Rose Young sehnte sich danach zu reiten, seit sie fünf Jahre alt war. Als ängstliche Seele, die befürchtete, vom Pferd zu fallen und sich zu verletzen, verfolgte sie ihren Traum jedoch nie weiter - bis sie in ihren 60ern an Brustkrebs erkrankte. Fest entschlossen, neue Freuden in ihrem Leben zu finden, entschied sie, es endlich mit dem Reiten zu versuchen.
Martha Prewitt wuchs auf einer Farm in Kentucky auf. Als Teenager war ihr größer Wunsch wegzugehen. Und so setzte sie sich nach der Highschool das Ziel, ihre Leidenschaft für das Singen zum Beruf zu machen. In den nächsten 15 Jahren absolvierte sie ein Gesangstudium und trat an verschiedenen Opernhäusern auf. Aber es gab Dinge in der Branche, die ihr nicht gefielen. Als sie 33 war, starb ihr Vater starb. Und sie fragte sich, ob sie die Bühne hinter sich lassen sollte, um Farmerin zu werden und aufs Land zurückzukehren.
Die Geschichten von Rose und Martha, in der New York Times Serie „Never too late“ erzählt, beleuchten eine interessante Frage. Sollte man Projekte verfolgen, die einem am Herzen liegen, aber ein Verhalten erfordern, das einem nicht “im Blut liegt”? Macht es Sinn, dass eine eine ängstliche 60+-Jährige Reitstunden nimmt? Ist es klug, dass ein Künstlerin, die gerne auftritt, die Bühne verläßt, um eine Farm zu führen?
Es ist eine Frage, über die viele Menschen irgendwann in ihrem Leben stolpern. Man denke an eine sanfte introvertierte Person, die davon träumt, eine durchsetzungsstarke Aktivistin für soziale Gerechtigkeit zu werden. Oder an einen schlampigen Naturliebhaber, der ehrenamtlich Insekten zählen will. Oder an einen etwas neurotischen Einzelgänger, der überlegt, einen Gruppensegelturn im Mittelmeer zu buchen. Werden diese Menschen Freude und Erfüllung in den beschriebenen Beschäftigungen finden? Oder wird die Anstrengung, gegen ihre Natur zu handeln, ihre Vorhaben überschatten?
Authentizität wird heute hoch geschätzt. Wenn man sich daran hält, „einfach man selbst zu sein“, wenn man sich so verhält, wie es der eigenen Natur entspricht, wird man erfolgreich und glücklich im Leben sein. Dies ist ein Rat, den man oft hört. Aber in Wahrheit ist es komplizierter. Denn was ist, wenn das, was einem am Herzen liegt, nicht zur eigenen Persönlichkeit passt?
Vorhang auf für Brian Little, der Interessantes dazu zu sagen hat. Little, derzeit Senior Fellow an der University of Pennsylvania und emeritierter Professor an der Carleton University in Ottawa, ist einer der originellsten Persönlichkeitsforscher, die ich kenne. Er argumentiert, dass man sich tatsächlich manchmal uncharakteristisch verhalten sollte - solange man die Risiken und Nebenwirkungen im Auge behält, die ein solches Verhalten mit sich bringt.
Sich uncharakteristisch zu verhalten kann bedeuten, dass eine schüchterne Person das Rampenlicht sucht, eine ungeduldige Person beschließt, auf langsam zu schalten oder eine freche Person absichtlich sanft agiert, auch wenn es bedeutet, dass sie so tun müssen als ob.
Diese Art des strategischen Rollenspiels ist der Kern von Littles Free Trait Theory (etwa Theorie freier Eigenschaften). Auf so genannte freie Eigenschaften zurückzugreifen, betont Little, eröffne Wege zur persönlichen Entwicklung, die verschlossen bleiben, wenn man sich auf die Charaktereigenschaften beschränkt, mit denen einen Gene und Kultur ausgestattet haben.
Schauen wir uns genauer an, worum es bei Littles Theorie geht. Die Free Trait Theory unterscheidet drei Arten, wie Menschen „sie selbst“ sein können:
Die erste ist biologisch. Die meisten Wissenschaftler sind sich heute einig darüber, dass Persönlichkeit, zumindest teilweise, genetische Wurzeln hat. So wird geschätzt, dass etwa 40 bis 60 Prozent der Unterschiede zwischen Menschen in Merkmalen wie Extroversion und Verträglichkeit erblich bedingt sind.
Ein zweiter Einflussfaktor ist sozialer Natur. Während der Sozialisation lernt ein Kind von Eltern und anderen Menschen, welche Verhaltensweisen als angemessen angesehen werden. Dabei können die Regeln und Normen je nach sozialem und kulturellem Umfeld stark variieren. Im Laufe der Zeit werden diese Verhaltensweisen oft zur Gewohnheit und sogar zur zweiten Natur.
Das Besondere an Littles Theorie ist der dritte Aspekt. Der Psychologe argumentiert, dass Menschen jenseits der Einflüsse von Biologie und Umwelt bewusst Verhaltensmuster wählen können, die ihrer genetischen oder soziokulturellen Natur widersprechen. Beispielsweise kann sich eine biologisch introvertierte Frau, die auch noch in einer “introvertierten Kultur” aufgewachsen ist, dennoch leidenschaftlich dazu hingezogen fühlen, als Kriegsreporterin zu arbeiten und vor Ort über gefährliche Ereignisse zu berichten. Um dabei erfolgreich zu sein, muss sie sich wahrscheinlich extrovertierter verhalten, als sie eigentlich ist. Diese Art von Extroversion nennt Little eine freie Eigenschaft. „Ihr Ursprung“, schreibt er, „liegt weder in der genetisch geprägten Natur eines Menschen noch in Einflüssen, die allein auf soziale Rollen und kontextuelle Zwänge zurückzuführen sind. Vielmehr handelt es sich um persönlich konstruierte Handlungsmuster, die strategisch eingesetzt werden, um Ziele und Projekte voranzutreiben, die dem Einzelnen wichtig sind.“
Little weiß aus eigener Erfahrung, wovon er spricht. Der Psychologe gilt als begnadeter Lehrer. Als er an der Harvard University arbeitete, waren seine Vorlesungen legendär. Er wirbelte auf der Bühne herum, erzählte Witze und sang sogar. Die Schüler liebten seine energievollen und witzigen Darbietungen, und der Unterricht endete oft mit stehendem Applaus. Er wurde sogar mit dem renommierten 3M Teaching Fellowship ausgezeichnet, das manchmal als Nobelpreis für Hochschullehrer bezeichnet wird.
Aber wenn man denkt, dass Little ein geborener Extrovertierter ist, liegt man falsch. Wenn er keine Vorlesungen hält, ist eine äußerst ruhige und in sich gekehrte Person, schreibt die Autorin Susan Cain, die ihn in ihrem Buch Still. Die Kraft der Introvertierten beschreibt. Er zieht sich gerne mit seiner Frau in sein Haus in den kanadischen Wäldern zurück. Er verbringt seine Freizeit mit Lesen, Schreiben und Musikhören und zieht intime Gespräche Partys vor. Wie passen der stille Einzelgänger und der kontaktfreudige Redner zusammen? Genau dieser Frage widmet sich Little in seiner Theorie.
Littles Vortragsstil ist zweifellos ungewöhnlich für einen Introvertierten. Aber wenn man die Ziele und Werte des Wissenschaftlers betrachtet, macht er absolut Sinn: Seine Studenten liegen ihm sehr am Herzen; ihren intellektuellen Horizont zu erweitern und sich um ihr Wohlergehen zu kümmern, sind zwei wichtige persönliche Projekte für ihn. Wenn er fesselnde Vorlesungen hält, setzt er bewusst freie Eigenschaften, um seine Studenten zu fesseln und ihnen das Lernen zu erleichtern.
Für Leute wie die ängstliche Rose, die unbedingt Reiten lernen möchte, die bühnenbegeisterte Martha, die plant, ein abgelegenes Farmerleben zu führen, und alle anderen Leute, die von Projekten träumen, die erfordern, dass sie sich “gegen die eigene Natur” verhalten müssen, enthält Littles Theorie eine gute Nachricht. Man kann – und sollte – sich uncharakteristisch zu verhalten, wenn es einem dabei hilft, Werte umzusetzen, die einem am Herzen liegen.
Dem sind allerdings Grenzen gesetzt. Welche das sind und wie man mit ihnen umgehen kann, dies ist das Thema des nächsten Newsletters. Ich hoffe, Du bist dabei!
Logo & Banner Design by Judy Higgins